Quelle : Stanislav Grof - Totenbücher (Seite 12)Der Bardo Thödol ist ein Führer für die Sterbenden und die Toten, ein
Handbuch, das den Toten anleiten soll, mit Hilfe eines sachkundigen Leh-
rers die verschiedenen Stufen des Bereichs zwischen Tod und Wiedergeburt
zu erkennen und die Befreiung zu erlangen. Die mit dem Prozeß des Todes
und der Wiedergeburt verbundenen Bewußtseinszustände gehören einer
größeren Gruppe von Zwischenbereichen oder »Bardos« an. Zu ihnen zählt
der Bardo-Zustand des Daseins im Mutterschoß, der Bardo des Traumzu-
stands, der Bardo des ekstatischen Gleichgewichts in der tiefen Meditation,
der Bardo des Todeseintritts (Chikhai Bardo), der Bardo der karmischen Illu-
sionen nach dem Tod (Chönyid Bardo) und der Bardo des Daseins, während
man nach Wiedergeburt strebt (Sibpa Bardo).
Das Tibetische Totenbuch wurde als Führer für die Sterbenden verfaßt. Es
hat jedoch zusätzliche Bedeutungsebenen. Nach der buddhistischen Lehre
treten Tod und Wiedergeburt nicht nur am Ende des irdischen Lebens, son-
dern in jedem Augenblick unseres Daseins ein. Die im Bardo Thödol
geschilderten Zustände können während systematischer spiritueller Übun-
gen auch meditativ erlebt werden. Dieser wichtige Text ist daher gleichzei-
tig ein Führerfür die Sterbenden, für die Lebenden und für ernsthaft spirituell
Suchende. Er gehört zu einer Reihe von Anweisungen über die verschiede-
nen Typen der Befreiung: Befreiung durch Hören, durch Sehen, durch Erin-
nern, durch Schmecken und Berühren.
(Seite 138)Natürlich handelt es sich bei den Bardos des Todes um viel tiefere Be-
wußtseinszustände als bei den Schlaf- und Traumerlebnissen und um viel
machtvollere Momente; aber ihre relativen Feinheitsgrade entsprechen
sich in etwa und vermitteln einen Einblick in die Verbindungen und Par-
allelen, die zwischen verschiedenen Ebenen des Bewußtseins existieren.
Manche Meister benutzen dasselbe Beispiel, um zu verdeutlichen, wie
schwierig es ist, das Gewahrsein während der Bardo-Zustände aufrecht-
zuerhalten. Wie viele von uns bemerken die Veränderungen im Bewußt-
sein, wenn sie einschlafen? Wer ist sich schon des Zustandes zwischen
dem Einschlafen und dem Einsetzen der Träume bewußt? Wie viele wis-
sen während eines Traumes, daß sie träumen? Das vermittelt uns viel-
leicht eine Vorstellung davon, wie schwierig es erst sein muß, mitten im
Aufruhr der Bardos des Todes das Gewahrsein aufrechtzuerhalten.
Wie unser Geist sich in den Schlaf- und Traumzuständen verhält, weist
darauf hin, wie er sich in den entsprechenden Bardo-Erfahrungen verhal-
ten wird. So zeigt zum Beispiel die Art, wie wir jetzt auf Träume, Alp-
träume und Schwierigkeiten reagieren in etwa, wie wir nach dem Tode
reagieren werden.
Darum spielt auch der Yoga des Schlafens und Träumens eine so tra-
gende Rolle in der Vorbereitung auf den Tod. Ein wahrhaft Praktizieren-
der versucht, sein Gewahrsein der Natur des Geistes fehlerlos und unun-
terbrochen Tag und Nacht aufrechtzuhalten, und er wird auf diese Weise
alle Phasen von Schlaf und Traum dazu nutzen, sich mit den Bardo-Er-
fahrungen während des Todes und danach vertraut zu machen.