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Reportage aus Bagdad: "Sie schießen auf alles, was sich bewegt"
Die Situation im Zentrum von Bagdad wird für die Einwohner immer gefährlicher - Die Krankenhäuser sind schon überfüllt
Iraker warten auf einem Gehsteig das Ende der Kämpfe um den Hauptpalast von Saddam Hussein ab.
"Sie schießen auf alles, was sich bewegt", sagt Abdullah, der erwogen hatte, mit seiner Familie Bagdad zu verlassen, sich jetzt aber damit abgefunden hat, dass es zu spät ist. "Wir hätten vergangene Woche fahren sollen. Jetzt geht es nicht mehr." Nicht nur das Reiseverbot der irakischen Behörden hat dazu geführt, dass die Menschen die Hauptstadt nicht verlassen. Auch das Verhalten der amerikanischen Soldaten brachte es mit sich, dass nur wenige das wagen. "Wenn sie etwas sehen, von dem sie glauben, dass es gefährlich sein könnte, schießen sie", sagt ein Fotograf, der den amerikanischen Truppen aus Kuwait gefolgt ist.
"Ich habe gesehen, wie sie auf Kinder am Straßenrand geschossen haben. Einmal sahen wir in der Ferne eine einzelne Frau auf einem Acker. Die Amerikaner richteten die Kanone des Panzers auf die Frau und schossen sie nieder." Daraufhin seien alle Dorfbewohner in ihre Häuser geflüchtet, berichtet der Fotograf. "So fanden die Amerikaner heraus, dass es sich um Zivilisten handelte, und erschossen in diesem Dorf niemanden mehr, weil sich alle versteckt hatten. Das ist ihre Strategie. Schieß zuerst!", erzählt der Fotograf, der anonym bleiben will, weil er als "eingebetteter Journalist" in Begleitung der US-Militärs unterwegs ist. Er ist seit zwanzig Jahren als Fotograf in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs und meint, "noch nie so schießwütige Soldaten gesehen" zu haben.
Nur kein Risiko eingehen
Der Journalist Yves Debay, ein französischer Verteidigungsexperte, kam Samstag in Bagdad an, nachdem er den amerikanischen Truppen aus Kuwait gefolgt war. "Als wir nach Mahmudiyah, ein Dorf südlich von Bagdad, kamen, war es fürchterlich. Die Amerikaner griffen eine Kolonne Panzer im Dorf an. Es soll mehr als zweihundert Tote gegeben haben. Natürlich hätte die irakische Armee ihre Panzer nicht inmitten der Bevölkerung haben dürfen, aber die Amerikaner gingen kein Risiko ein und schossen wie wild in das Dorf, um alles zu vernichten", erzählt Debay, der selbst eine militärische Laufbahn hinter sich hat.
"Ich nenne sie ,Höllenkolonnen‘. Sie warten nicht einmal auf den Befehl. Es heißt einfach: ,Wer will, darf schießen!‘", meint Debay. "Sie haben keine Disziplin, was das Schießen angeht. Die Initiative bleibt jedem einzelnen Soldaten überlassen, Buben, die gerade mal 20 Jahre alt sind." Die Amerikaner wollen sich offenbar für den 11. September rächen, meint der Franzose. "Ein anderer Grund ist, dass es offenbar keine Strafen oder Sanktionen gibt. Das würde sie vorsichtiger machen. Dann würden sie sich nicht wie Cowboys aufführen."
Trotzdem will Debay die Soldaten nicht anklagen. "Sie haben wahnsinnige Angst. Und die Angst wird noch größer, wenn sie Verluste erleiden. Das hat ihnen eine Tötungsmentalität gegeben. Aber das liegt nicht an ihnen, ihre Kommandanten haben ihnen keine Schützendisziplin beigebracht. Sie tragen die Verantwortung", unterstreicht der erfahrene Journalist. "Sie vergessen eines", meint Yves Debay abschließend, "den Kampf um die Herzen. Der muss auch gewonnen werden."
Ausgebranntes Kriegsmaterial
Auf Bagdads Straßen sind inzwischen Panzer, Militärfahrzeuge, Kanonen und Raketenwerfer ein gewohnter Anblick. Lastwagen mit Soldaten fahren zwischen den verschiedenen Stadtteilen hin und her. Im Dora-Viertel an der Autobahn zwischen Bagdad und Kerbala steht irakisches Kriegsmaterial auf der Straße. Es ist völlig ausgebrannt. Schwarz verkohlte Panzer und zerstörte Abschussrampen liegen im Graben. Die irakischen Behörden veranstalten für Journalisten einen Ausflug zu einem amerikanischen Panzer, den die Iraker am Wochenende zerstören konnten. "Wir haben ihn mit einer Panzerabwehrrakete zerstört", sagt der Kommandant der Republikanischen Garde, Jassim Faisel. Neben dem Panzer ist ein großer Krater. Hier schlugen Bomben ein.
Auf dem Panzer stehen singende und krakeelende irakische Soldaten. Sie rufen immer wieder Parolen für Saddam Hussein. "Eine Stunde nach dem Sieg über die Amerikaner kam Präsident Saddam Hussein, um uns zu gratulieren. Er bat uns, weiterzukämpfen, bis wir endgültig gesiegt hätten", sagt der Soldat Ahmad Khoder. Er hält eine Kalaschnikow in der Hand und hat einen Patronengürtel umhängen. Laut Ahmad befanden sich vier Männer und eine Frau in dem Panzer. "Sie sind alle tot", meint er noch. Von den Toten fehlt in dem zerstörten Panzer jedoch jede Spur.
Während die Amerikaner behaupten, der Kommandant des Panzers sei getötet und zwei aus seiner Besatzung seien verletzt worden, behaupten die Iraker, dass fünfzig Amerikaner getötet worden seien und dass sie acht Panzer zerstört hätten. Diese seien jedoch entfernt worden, damit der morgendliche Verkehr auf der Autobahn nicht gestört würde, so die Begründung auf irakischer Seite.
Die Amerikaner wiederum sprechen von 2000 gegnerischen Soldaten, die bisher bei den Angriffen auf Bagdad getötet wurden. Der irakische Informationsminister Mohammed Said Al-Sahhaf bestreitet dies vehement. "Das ist leere Propaganda der Amerikaner. Die erfinden diese Zahlen, um von ihren eigenen Verlusten abzulenken."
Den Beruhigungsversuchen und Beteuerungen der offiziellen Vertreter des Irak zum Trotz versuchen mehr Menschen als in den Kriegstagen zuvor, aus der irakischen Hauptstadt zu flüchten. Zahlreiche Fahrzeuge mit Zivilisten machen sich auf, um einen Weg aus Bagdad hinaus zu finden, obwohl die irakischen Behörden inzwischen den Einwohnern Bagdads verboten haben, die Stadt zu verlassen. Andererseits drängen ganze Familien der Außenbezirke ins Stadtzentrum. Sie nehmen an, dass es die schwersten Kämpfe an der Peripherie gibt. Und sie hoffen, dass sie im Zentrum glimpflicher davonkommen.
Es wurden auch mehrere Wohnviertel in Bagdad von Raketen getroffen. Ein Strom von Verletzten ist unterwegs in die Spitäler der Stadt. Auf dem Höhepunkt der Kämpfe sind pro Stunde "bis zu hundert und mehr Verwundete" gebracht worden, hieß es. Aber keiner zählt mehr genau. Die Spitäler platzen aus allen Nähten, die hygienische Situation ist katastrophal. Die Krankenhäuser behaupten nachdrücklich, dass sie nur Zivilisten behandeln. Aber unter den Verletzten wurden auch mehrere Männer mit Uniform gesichtet, was darauf hindeuten könnte, dass die Militärkrankenhäuser noch viel mehr überfüllt sind.(DER STANDARD, Printausgabe, 8.4.2003)