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Wie definiert man den *gesunden* oder *korrekten* Menschen?

InsularMind

Geheimer Sekretär
9. Dezember 2003
644
Ja, diese Frage soll eigentlich in einem meiner Buchprojekte von verschiedenster Sicht etwas angeleuchtet werden.
Im Buch wird es um "reaktive Depression" bzw. Lebensfolgerung gehen, und ich hatte diese Frage in diversen Foren schon gestellt, es brachte aber kein besonders bewegendes Interesse.
Alle reden immer von allen möglichen "Störungen" aber keiner fragt nach dem "gesunden" Menschen oder redet von der "richtig gearteten" Persönlichkeit.

Ich hätte aber auch so gern mal erfahren, wie die Mediziner / Philosophen oder Psychoberufler so etwas sehen, oder wer dazu privillegiert ist, den "korrekten" Menschen oder die "richtige" persönliche Verfassung zu bestimmen, aus welchem Grund die so privillegierten darin gegenüber einem Anderen richtiger liegen , oder wo da die allgemein gültige Trennlinie ist.

Zurück geht die Überlegung aus einen Absatz den ich mal über die Urteilsfähigkeit las. Es soll also jeder Mensch mindestens eine oder einige Störungen in sich tragen, aber es darf kein gültiges Urteil von einem Menschen gefällt werden der selbst eine Störung trägt.
Ihr werdet's vermutlich riechen können -- daraus erfolgt für mich der Gedanke, dass kein Mensch einen Anderen jemals gültig beurteilen könnte ;-)

Wer oder wie geartet ist also der "korrekte" oder auch "gesunde" Mensch ???
 

Benkei

Geheimer Meister
10. September 2004
447
Normlos glücklich

InsularMind schrieb:
Ja, diese Frage soll eigentlich in einem meiner Buchprojekte von verschiedenster Sicht etwas angeleuchtet werden.
Im Buch wird es um "reaktive Depression" bzw. Lebensfolgerung gehen, und ich hatte diese Frage in diversen Foren schon gestellt, es brachte aber kein besonders bewegendes Interesse.
Alle reden immer von allen möglichen "Störungen" aber keiner fragt nach dem "gesunden" Menschen oder redet von der "richtig gearteten" Persönlichkeit.
Vielleicht liegt das Problem daran, dass man eine allgemein gültige Antwort wesentlich schwieriger oder gar nicht geben kann, wohingegen die Meinung darüber, was nicht "richtig geartet" bzw. nicht "der Norm" entspricht allzu leicht geäußert werden kann.

Wie Du schon andeutest sollte die Frage lauten:
"Was ist "die Norm"?" oder
"Was versteht man (und wer ist das überhaupt, dieses "man" von dem "man" dauernd spricht) unter "richtig geartet"?".

InsularMind schrieb:
Ich hätte aber auch so gern mal erfahren, wie die Mediziner / Philosophen oder Psychoberufler so etwas sehen, oder wer dazu privillegiert ist, den "korrekten" Menschen oder die "richtige" persönliche Verfassung zu bestimmen, aus welchem Grund die so privillegierten darin gegenüber einem Anderen richtiger liegen , oder wo da die allgemein gültige Trennlinie ist.
Ich denke nicht, dass Mediziner diagnostizieren können ob jemand "gesund" ist. Sie können lediglich feststellen, dass jemand nicht unter einer Krankheit leidet.
Der Psychiater wird wohl niemanden für "gesund" halten, der ihn aufsucht und dem Philosoph haftet im allgemeinen der Markel der "Unzufriedenheit" an.
Der Ökonom wird wohl sagen, dass jemand "richtig geartet" ist, wenn er seine (wirtschaftlichen) Bedürfnisse der Reihe nach befriedigt (Maslovsche Bedürfnis-Pyramide) und niemals zur "absoluten Zufriedenheit" gelangt.
Für einen asketischeren Menschen wiederum wäre ein solches Verhalten die absolute "Entartung".

Wer sieht sich hier dafür prädistiniert "die Normen" festzulegen?
Wer will anschließend das Urteil fällen?

Ich denke, nur wenn man sich selbst im zu beurteilenden Bereich nicht für "Sonderbar", "etwas neben der Spur", "leicht entartet" oder "Einzigartig, Besonders" hält, beginnt man dafür "die Normen" aus seinem Standpunkt heraus festzulegen und andere in dieses Schema zu packen.
Wenn man aber der Ansicht anhängt, dass es überhaupt keine Norm gibt, wieso sollte man dann überhaupt erst beginnen, ein Schema festzulegen?

InsularMind schrieb:
Zurück geht die Überlegung aus einen Absatz den ich mal über die Urteilsfähigkeit las. Es soll also jeder Mensch mindestens eine oder einige Störungen in sich tragen, aber es darf kein gültiges Urteil von einem Menschen gefällt werden der selbst eine Störung trägt.
Ihr werdet's vermutlich riechen können -- daraus erfolgt für mich der Gedanke, dass kein Mensch einen Anderen jemals gültig beurteilen könnte ;-)

Wer oder wie geartet ist also der "korrekte" oder auch "gesunde" Mensch ???
Was ist schon "korrekt" oder "gesund", was ist "Norm"?
Wie zitierte Tarvoc noch
"Wer "wahr" und "falsch" kennt, ist einer von den "Wahren" und "Falschen"?"

Also meine Antwort auf die ursprüngliche Frage, wie man den "gesunden" oder "korrekten" Menschen definiert wäre damit:
"man" (wer?) definiert überhaupt nicht;
jeder definiert für sich und das jeden Augenblick aufs neue.
 

Ellinaelea

Geheimer Meister
7. März 2005
494
...

Steht doch alles im Duden. Ich weiss nicht, was es daran zu deuteln gibt.
normal: der Norm (griech.-lat. Richtschnur/Regel) entsprechend, vorschriftsmässig, gewöhnlich, üblich, durchschnittlich, geistig gesund
korrekt: richtig, fehlerfrei, einwandfrei
gesund: frei von Krankheit

Für Krankheit, psychologische Störungen, etc. sind Ärzte und andere Heiler zuständig.
Die Norm entsteht aus dem kulturellen Kontext.

Meinst du, du findest eine Definition, die auf die ganze Welt und alle darauf lebenden Menschen zutrifft? Ich glaube nicht, dass das möglich ist.

Wenn jemand immerzu, permanent, überall und in jeder Situation normal, korrekt und gesund wäre, wär das bereits ein Widerspruch. Weil die Norm ganz sicher nicht fehlerlos ist ;-)

InsularMind schrieb:
Wer oder wie geartet ist also der "korrekte" oder auch "gesunde" Mensch ???
permanent frei von körperlichen Krankheiten, psychisch/seelischen Störungen und chronisch an sämtliche kulturelle Normen angepasst. Wobei mit dem letztgenannten würdest du dann auch gleich die Individualität aufheben. Es lebe der Ameisenstaat!
Schlicht ein Ding der Unmöglichkeit. Darum redet keiner darüber. Das gibt es einfach nicht :-)

Wenn du dich mit dieser Frage beschäftigst, dann kannst du das - wenn du den wirklich auch ein Ergebnis vorweisen willst - nur in eingeschränkten kulturellen Gruppen tun. Und auch dort wirst du schon auf zuviele individuelle Unterschiede stossen.
Jeder lebt in seinem eigenen Universum.

Du könntest natürlich auch ein neues "heiliges Buch" schreiben, in dem du dann deine individuell erarbeitete Version vom perfekten Menschen dem Rest der Spezies versuchst aufzudrängen. Aber das hatten und haben wir ja alles schon oder? Christen, Juden, Moslems, Wirtschaft, etc.
Noch ein Guru, der uns sagt, wo es lang geht und uns armes minderbemitteltes Volk mit Krieg auf den rechten Weg zwingt?
Der rechte Weg und Zustand ist und bleibt individuell.

;-)
 

Gestreift

Vollkommener Meister
12. Juli 2003
516
Benkei schrieb:
jeder definiert für sich und das jeden Augenblick aufs neue.

In gewisser Hinsicht wünschenswert, wird jedoch derzeit nicht im Alltag praktiziert.

Ellinaelea schrieb:
Steht doch alles im Duden. Ich weiss nicht, was es daran zu deuteln gibt.

Jede Menge.

InsularMind schrieb:
Ich hätte aber auch so gern mal erfahren, wie die Mediziner / Philosophen oder Psychoberufler so etwas sehen, oder wer dazu privillegiert ist, den "korrekten" Menschen oder die "richtige" persönliche Verfassung zu bestimmen, aus welchem Grund die so privillegierten darin gegenüber einem Anderen richtiger liegen , oder wo da die allgemein gültige Trennlinie ist.

Vielleicht hilft es dir weiter, wenn Du dich mal mit dem Werk von Michel Foucault auseinandersetzt. Speziell meine ich Wahnsinn und Gesellschaft.


Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Sein erstes großes Werk, in dem er nachweist, dass das psychiatrische Verständnis von ›Geisteskrankheit‹ das vielschichtige Problem des Wahnsinns reduziert und missversteht.

Michel Foucault erzählt die Geschichte des Wahnsinns vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Er erzählt zugleich die Geschichte seines Gegenspielers, der Vernunft, denn er sieht die beiden als Paar, das sich nicht trennen lässt. Der Wahn ist für ihn weniger eine Krankheit als eine andere Art von Erkenntnis, eine Gegenvernunft, die ihre eigene Sprache hat oder besser: ihr eigenes Schweigen.

Quelle

Hier noch etwas zu Michel Foucault .
 
W

Weinberg, Oliver

Gast
Vielleicht hilft es dir weiter, wenn Du dich mal mit dem Werk von Michel Foucault auseinandersetzt. Speziell meine ich Wahnsinn und Gesellschaft.

..ach, ja der Foucault. War da nicht mal eine Ungarn Reise mit psychisch Behinderten, auf der ein junger, ambitioniert intellektueller Kollege eines seiner Bücher (vielleicht sogar das Genannte) im Gepäck hatte und während einer Siesta in Anwesenheit der Klienten erzählte, dass sein Studienseminar einen ganzen Nachmittag nur über einem einzigen Satz daraus diskutiert hätte, und er ging daran, öffnete das Buch und zitierte diesen Satz und ein jüngerer Klient bemühte sich diesen Satz zu verstehen und dekompensierte in der Folge und hat sich bis heute (fünf Jahre danach) noch immer nicht wieder völlig erholt.

Auf manche Bücher gehört einfach ein Warnhinweis....
(Was sicher den Reiz erhöhen täte, sie zu lesen :wink: )
 

nicolecarina

Meister vom Königlichen Gewölbe
6. Juni 2003
1.414
laut aristoteles ist der ideale mensch zuerst einmal der philosoph aber unabhängig von der eignung zu einem bestimmten beruf ist es der tugendhafte mensch der ein vernünftiges leben führt, was überhaupt auch im vergleich zum genusshaften leben das einzige sei, das auf dauer glücklich mache. da ich seine definition von tugendhaft nicht genau kenne - aufschluss gibt aber sicher ein stück weit die nikomachische ethik - behelfe ich mir mit hildegard von bingen, die wirklich alle 35 tugenden aufgezählt hat und auch die entsprechenden psychischen störungen, so diese tugenden nicht vorliegen.

das buch ist ganz hinten aufm schrank weshalb ich jetzt erst mal einige zitiere, weil ich auch gleich weg muss 8)
aber ich schau später gerne genauer nach falls es jemand genauer wissen möchte.

also die schamhaftigkeit steht da beispielsweise, die gerechtigkeit, die barmherzigkeit, usw usf also alles eigenschaften, die heute nicht wirklich in sind, die aber jeder irgendwie angenehm findet, so er jemand trifft der sich vernünftig verhält.
als mögliche störungen wird sehr oft die schizophrenie genannt, die depression und alle möglichen körperlichen symptome.

@elli

ich bin übrigens davon überzeugt, dass ein tugendhafter mensch nicht zwingend angepasst sein muss und durchaus eine eigene individualität besitzt. leider wird das bei uns eben gleich so definiert und hat einen religiösen touch, aber ich denke es lohnt sich vor allem in der heutigen zeit darüber nachzudenken, wo die dekadenz und perversion eben fröhliche urständ feiert und nicht jede geistige abhandlung muss einem guru-werk gleichkommen das mit faustrecht durchgesetzt wird. das finde ich etwas überzogen in dem fall, zumal philosophen erfahrungsgemäß viel zu friedlich sind um ihre eigenen ideen tatsächlich nachhaltig umzusetzen. meist werden sie ja "entdeckt" und nicht selten sogar missbraucht
 

Ellinaelea

Geheimer Meister
7. März 2005
494
nicolecarina schrieb:
@elli
ich bin übrigens davon überzeugt, dass ein tugendhafter mensch nicht zwingend angepasst sein muss und durchaus eine eigene individualität besitzt. leider wird das bei uns eben gleich so definiert und hat einen religiösen touch, aber ich denke es lohnt sich vor allem in der heutigen zeit darüber nachzudenken, wo die dekadenz und perversion eben fröhliche urständ feiert und nicht jede geistige abhandlung muss einem guru-werk gleichkommen das mit faustrecht durchgesetzt wird. das finde ich etwas überzogen in dem fall, zumal philosophen erfahrungsgemäß viel zu friedlich sind um ihre eigenen ideen tatsächlich nachhaltig umzusetzen. meist werden sie ja "entdeckt" und nicht selten sogar missbraucht

Ich wollte mit meinem Beitrag eigentlich nur aufzeigen, dass es einerseits wichtig ist, Wörter so zu definieren, dass jeder wenigstens einigermassen dasselbe darunter versteht (Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose). Dass es aber trotzdem nicht möglich ist, manche Begriffsdefinitionen für den ganzen Planenten zu verallgemeinern (Wildrosen, Strauchrosen, Kletterrosen, Beetrosen, Polyantha-Rosen, Floribunda-Rosen ... und da haben wir noch nicht mal die Farben berücksichtigt.)

Ich hoffe, es ist nun deutlicher, was ich sagen wollte :-)

Elea
 

agentP

Ritter Kadosch
10. April 2002
5.361
es lohnt sich vor allem in der heutigen zeit darüber nachzudenken, wo die dekadenz und perversion eben fröhliche urständ feiert
Inwiefern unterscheidet sich die heutige Zeit da von vorangegangenen ?
 

nicolecarina

Meister vom Königlichen Gewölbe
6. Juni 2003
1.414
Ich hoffe, es ist nun deutlicher, was ich sagen wollte
net so ganz ne.
dass wir in einer vielfalt leben weiß ich, dass die nicht immer in worte zu fassen oder zu normen ist hoffe ich.

ebenso dass dem ganzen eine ureigene natürliche gesundheit innewohnt :roll:

@agent p
weiß ich nicht, aber ich hab schon den eindruck dass auch im "negativen/entarteten" vieles "zur perfektion getrieben wird", was eben mitunter seine zeit braucht und deshalb eventuell im mittelalter so noch nicht vorgekommen ist. auch die zunahme der menschen auf diesem planente vergrößert ja die möglichkeit enorm.

recht gebe ich dir in der frage, obs nicht wirklich alles schon so "dekadent" war und man es lediglich nicht wusste.
 

agentP

Ritter Kadosch
10. April 2002
5.361
weiß ich nicht, aber ich hab schon den eindruck dass auch im "negativen/entarteten" vieles "zur perfektion getrieben wird", was eben mitunter seine zeit braucht und deshalb eventuell im mittelalter so noch nicht vorgekommen ist. auch die zunahme der menschen auf diesem planente vergrößert ja die möglichkeit enorm.
Das ist mir zu spekulativ. Gerade das Mittelalter und die frühe Neuzeit waren geprägt von Kriegen, feudalen Systemen, Unterdrückung, Verfolgungen und der Unterwerfung und Ausrottung von ganzen Völkern und das alles ohne 300 Jahre manchmal doch auch für Milderung sorgenden Humanismus im Rücken. Mehr Dekadenz als im späten römischen Kaiserreich, zur Hochzeit der absolutistischen Herrscher in Europa oder an den Höfen spanischer Vizekönige in der Neuen Welt zur Zeit der Konquista vermag ich mir kaum vorzustellen, ebensowenig wie ich mir etwas perverseres vorstellen kann als den kalt geplanten industriellen Massenmord an 6 Millionen Männern, Frauen und Kindern jeden Alters.
 

nicolecarina

Meister vom Königlichen Gewölbe
6. Juni 2003
1.414
ich hab bewusst das mittelalter gewählt, weil mir viele entscheidungen die politiker heute fällen genau so rückständig vorkommen und es gibt auch heute überall auf der welt noch genozide und todesurteile und staatlich gelenkte massenverarmung usw.

ich denke mal entführte frauen die später vor der kamera missbraucht und getötet werden scheint mir doch schon eine recht moderne variante der entartung zu sein. und ich finde das ehrlich gesagt mal richtig heftig, genauso menschen die lediglich als organspendekörper missbraucht werden, leute die im internet andere suchen um sie essen zu können also ich denke schon die liste der perversitäten hat sich seit dem mittelalter doch um ein ganzes stück vergrößert bzw. intensiviert

viel einschneidender in diesem zusammenhand ist ja auch die absolute transparenz der taten, die allgegenwärtige animation durch filme, comics, etc wodurch die wahrscheinlichkeit der nachahmung ja auch noch mal steigt
 

nicolecarina

Meister vom Königlichen Gewölbe
6. Juni 2003
1.414
wer weiß?
es soll ja auch sowas wie inspiration geben und die muss sicher nicht immer konstruktiv und blümchenmäßig sein
 

Giacomo_S

Prinz der Gnade
13. August 2003
4.321
Re: Wie definiert man den *gesunden* oder *korrekten* Mensc

InsularMind schrieb:
Wer oder wie geartet ist also der "korrekte" oder auch "gesunde" Mensch ???

Das ist im Wesentlichen wohl abhängig von gesellschaftlichen Konventionen. (Ich lese gerade ein Buch über die Sexualgeschichte des Christentums. Was im Mittelalter als 'gesund' oder 'erstrebenswert' ansah...au weia.)

Dennoch braucht man gar nicht mal so weit zurück zu gehen. Ich kenne Leute, die man noch in den späten 50ern aufgrund ihrer Homosexualität psychiatrisch zu therapieren versuchte (unter Zwang !).
Allerdings hat die Psychiatrie inzwischen eingesehen, sich nicht mehr in erotische Spielarten einzumischen, solange es freiwillig unter Erwachsenen bleibt.

Meiner Meinung nach ist für die Beurteilung ob jemand als psychisch gesund bezeichnet wird oder nicht, das Funktionieren im Kapitalismus maßgebend.
Funktioniert jemand nicht mehr, wird er als krank betrachtet.
Ein und dasselbe Verhalten kann als 'krank' oder auch als erstrebenswert angesehen werden. Ist ein Firmenchef ein Maniker - und funktionieren seine Projekte - so ist das etwas anderes, als wenn eine Hausfrau sich da verlustiert.

Ich habe Leute erlebt - Vorgesetzte - deren aggressives, cholerisches Verhalten unter anderen Umständen für eine Einweisung gereicht hätte.
Da aber so der Betrieb am Laufen gehalten wurde hieß es immer nur 'trägt viel Verantwortung', 'ist eigentlich sehr nett' usw.
Kotz.
 

agentP

Ritter Kadosch
10. April 2002
5.361
ich denke mal entführte frauen die später vor der kamera missbraucht und getötet werden scheint mir doch schon eine recht moderne variante der entartung zu sein.

Früher gab es dafür die Hexenverfolgung und statt einer Videoaufzeichnung gab es den Pöbel, der bei der Vollstreckung des Urteils rumstand und sich aufgeilte.

leute die im internet andere suchen um sie essen zu können also ich denke schon die liste der perversitäten hat sich seit dem mittelalter doch um ein ganzes stück vergrößert bzw. intensiviert
Auch hier bezweifle ich, daß das, abgesehen vom Internet, eine Erfindung der Neuzeit ist. Im Gegenteil: Kopfjagd und Kannibalismus wurden erst in der Neuzeit in den meisten Kulturen geächtet. Ich empfehle hierzu "Kannibalen und Könige" des amerikanischen Anthropologen Marvin Harris.

Auch bezweifle ich, daß die Horden die Europa zur Völkerwanderung durchzogen, die Kreuzfahrer, die Inquisition oder die Landsknechte im dreissigjährigen Krieg besonders skrupellos waren, wenn es um Frauen, Kinder oder andere schwächere Glieder der Gesellschaft ging. Der Unterschied zu damals dürfte lediglich sein, daß viele Dinge übehaupt erst in der Neuzeit moralisch geächtet wurden und heute die Medien diese Dinge öffentlich machen. Dass in einer Zeit in der Kinder und Frauen dem Ehemann und Vater vor dem Gesetz als sein Eigentum gehörten zB Missbrauch kein Thema war dürfte auch klar sein.

Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß wir zumindest in Mitteleuropa in den letzten 2000 Jahren kaum eine Zeit hatten, die so friedlich, ungefährlich und so "moralisch" war, wie die Zeit seit 1945.
 

Giacomo_S

Prinz der Gnade
13. August 2003
4.321
nicolecarina schrieb:
...also ich denke schon die liste der perversitäten hat sich seit dem mittelalter doch um ein ganzes stück vergrößert bzw. intensiviert...

Oh, da liegst Du aber falsch. Wenn auch aus anderen Gründen. Viele Verrückte des Mittelalters handelten in religiösem Wahn, im Versuch, maximale Asketen zu sein.
Ich erlaube mir, zu zitieren:

Die französsiche Salesianerin Marguerite Marie Alacoque (1647-1690) schnitt sich ein Jesusmonogramm in die Brust und brannte es, als es zu schnell heilte, mit einer Kerze wieder aus. Sie trank zeitweise nur Waschwasser, aß verschimmeltes Brot, faules Obst, wischte einmal mit ihrer Zunge den Auswurf eines Patienten auf und beschreibt uns in ihrer Selbstbiografie das Glück, das sie empfand, als sie ihren Mund mit den Fäkalien eines Mannes füllte, der an Durchfall litt. Für dererlei Kotfetischismus aber durfte sie nachts lange das Herz Jesu küssen, der sie eigenhändig dabei hielt. Papst Pius IX. sprach sie 1864 heilig ! Herz-Jesu-Orden, Herz-Jesu-Andacht und Herz-Jesu-Fest gehen auf die 'Offenbarungen' dieser Nonne zurück.
Katharina von Genua (1447-1510) kaute Schmutz von alten Armenkleidern, wobei sie Dreck und Läuse verschluckte. Sie wurde 1737 kanonisiert.
Die heilige Angela von Foloigno (1248-1309) genoß das Waschwasser von Aussätzigen. "Nie hatte ich mit solcher Wonne getrunken", bekennt sie. "Ein Stück der schorfigen Haut aus den Wunden der Aussätzigen war in meiner Kehle stecken geblieben. Statt es auszuspucken, gab ich mir große Mühe, es herunterzuschlucken, und es gelang mir auch. Ich meinte, ich habe eben kommuniziert. Nie vermag ich die Wonnen auszudrücken, die mich überliefen."

Karlheinz Deschner, Das Kreuz mit der Kirche.
Eine Sexualgeschichte des Christentums

Übrigens kann man das endlos so weiterführen.
Die meisten dieser - z.T. aus heutiger Sicht ganz ordentlich Perversen - sind Heilige, Kirchenlehrer usw.
Interessant auch, wie ihre Lehren und Taten auch von offiziellen katholischen Stellen noch heute kommentiert werden.
 

nicolecarina

Meister vom Königlichen Gewölbe
6. Juni 2003
1.414
ihr habt recht und ich meine ruhe 8) :lol:

keine ahnung wie es sich wirklich verhält, so richtig
stichhaltig sind mir eure "beweise" letztendlich auch nicht
 

Giacomo_S

Prinz der Gnade
13. August 2003
4.321
Es geht mir gar nicht um die Stichhaltigkeit von Beweisen.

Die o.g. Lektüre - zufällig lese ich das gerade - zeigt eine endlose Reihe von religiösen Fanatikern auf, christlichen Asketen, die sich darin zu überbieten trachteten, ihren Körper zu mißachten.
Nicht wenige verstümmelten sich oder marterten sich ständig - oft mit entzündeten Wunden - ganz zu schweigen von dem natürlich sich aufgezwungenen Keuscheitsgelübde.
Umso mehr sie sich jedoch die Keuschheit aufzwangen, um so mehr wurden sie von erotischen Fantasien gequält. Mönche litten an spontanen Pollutionen, selbst tagsüber. Nonnen wurden von plötzlichen Akten erotischer Hysterie heimgesucht.

Ist das etwa nicht neurotisch ?
Bis heute werden die meisten dieser 'Heiligen' übrigens von offiziellen katholischen Stellen idealisiert - statt zitiert, denn das spräche für sich selbst und ist wohl dem Katholiken von heute nicht mehr zumutbar.

Und das Verrückte dabei ist: Jesus selbst war - wie letztlich alle großen Religionsstifter - kein Asket. :wink:
 

agentP

Ritter Kadosch
10. April 2002
5.361
nicolecarina schrieb:
ihr habt recht und ich meine ruhe 8) :lol:

keine ahnung wie es sich wirklich verhält, so richtig
stichhaltig sind mir eure "beweise" letztendlich auch nicht

Nun, wenigstens versuchen wir unsere Position zu belegen, während andere lediglich ins Blaue spekulieren und trotzdem scheinbar das letzte Wort haben müssen. :roll:

Abgesehen von den früheren Gräueln, die von den Kirchen im namen der Tugend begannen wurden, gibt es noch weitere Punkte, die mir entschieden dagegen sprechen, daß früher ein "tugendhafterer Umgang" miteinander gepflegt wurde: Krieg wurde früher als notwendiges Übel betrachtet, erst seit 1945 ist der Angriffskrieg völkerrechtlich geächtet und erst seit den Balkankriegen wird auch versucht dieses Völkerrecht vor Gerichten durchzusetzen. Erst seit dem 2. Weltkrieg fliesst Kapital aus der 1. Welt in die 3. Welt zurück anstatt in die andere Richtung. Erst in den letzten 50 Jahren wurde begonnen Frauen die gleichen Rechte zuzugestehen wie Männern und erst in den letzten 50 -100 Jahren wurden Werte wie Meinungsfreiheit und Toleranz zumindest in Europa und Nordamerika auch in Verfassungen zementiert.
Ich halte dies und anderes durchaus für grosse und wesentliche Fortschritte.
Das "früher war alles besser"-Argument haben Konservative zu allen Zeiten benutzt. Irgendjemand hatte auch hier mal den grossen Griechen als Signatur, der sich schon in der Antike über die verkommene Moral der Jugend beklagte und zu allen Zeiten riefen Mahner zur Rückbesinnung auf alte Werte auf. Und zu allen Zeiten hatten diese Leute einen verklärten Blick auf einzelne Aspekte einer Vergangenheit, die ohnehin nur in ihrer blauäugigen Wahrnehmung so aussah wie sie sichs zurechtzimmerten.
 

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