Giacomo_S
Prinz der Gnade
- 13. August 2003
- 4.324
Na ja, ich meinte das als Beispiel für vielleicht "Gedankenübertragung". Meine Kollegen sind ein hochprofesionelles Team, aus Psychologen, Sozialpädagogen usw.
Möchte nicht einer von ihnen bei uns arbeiten? Meine Kollegen sind - 70% von ihnen - eine Brigade (1) von Menschen mit Behinderung, geistige Behinderung, verschiedene Grade, verschiedene Formen, manche schwer. (2) Wir hätten gern einen Sozialpädagogen, bekommen aber keinen.
Gedankenübertragung:
Da ist eine Azubine (nennen wir sie mal "Sarah") (3) die ist ... der stillste Mensch, der mir je im Leben begegnet ist. Sie ist keineswegs taubstumm und kann sprechen, aber sie spricht nicht. Nur, wenn es gar nicht anders geht (und hat dann eine sehr leise Piepsstimme, was in einer eher lauten Küche Probleme bereiten kann).
Ich selbst bin eher das völlige Gegenteil, extrovertiert und laut. (4)
Die anderen kommen mit ihr nicht so gut klar, was auch daran liegt, dass man von ihr nichts erfährt und daher über sie auch wenig weiß. Es ist auch nicht leicht, jemanden auszubilden und mit ihr zu arbeiten, wenn sie sich nie äußert.
Trotz aller Gegensätze ist Sarah dann auf der Arbeit bei mir gelandet, mit der Zeit wurde sie zu "meiner persönlichen Assistentin". Das hat niemand angeordnet, es ergab sich mit der Zeit einfach so. (5)
Vor einiger Zeit sprach der Küchenchef mich an: Du scheinst ja mit ihr gut klar zu kommen? Wo sie doch so still ist? Wie machst Du das?
Ich antwortete: Ach weisst Du, Sarah braucht zu mir gar nichts mehr sagen. Mit Sarah verstehe ich mich mittlerweile telepathisch.
Das war natürlich ein Witz, aber es stimmt tatsächlich, wenn auch nicht im wörtlichen Sinne.
Wenn sie in gewissen Situationen vor mir steht, dann weiß ich ganz genau, was sie von mir will, ohne Worte. Genau genommen ist das natürlich keine Telepathie, sondern Empathie. (6)
Und genau genommen ist das Alles weder übersinnliche Wahrnehmung, noch überhaupt eine besondere Empathie oder Emotionalität.
Sondern vielmehr eine Frage der Intelligenz, des Willens, des sozialen Bewusstseins und der Moral.
Der Intelligenz insofern, da sich Situationen und Abläufe auch ständig wiederholen, und man aus der Rückschau auf bereits vergangene Situationen auch eine zumindest wahrscheinliche Vorhersage für aktuell zukünftige Sitautionen ableiten kann. (7) Des Willens, des sozialen Bewusstseins, der Moral: Dies alles auch umzusetzen, es umsetzen zu wollen - und nicht etwa ein völliger Ignorant zu sein, dem das alles schnurz ist. (8)
Anmerkungen:
(1) Tatsächlich nennt man ein Team von Köchen traditionell Brigade.
(2) Wir mögen den Begriff "Behinderung" nicht. Intern nennen wir sie - sofern das überhaupt sein muss, was nicht mehr so oft vorkommt - "die Besonderen".
(3) Name geändert.
(4) Außerdem ist sie die Jüngste und ich der Älteste, sie ist empfindsam, und ich bin abgebrüht, sie ist eine junge Frau und ich ein alter Mann ... also: Alle Gegensätze beieinander, oder?
(5) Zugegebenermaßen hat sie Gefühle in mir geweckt, aber diese sind keineswegs romantischer oder gar erotischer Natur. Eher wie Opa vs. Enkelin und das könnten wir theoretisch ja auch sein. Für mich ist das übrigens neu und normalerweise ticke ich nicht so. Ein wenig wie "alter Brummbär + junge Frau".
(6) Und dies, obwohl mich Freunde, die mich sehr gut kennen, gerade in dieser Eigenschaft für mehr als unterdurchschnittlich einschätzen.
(7) Mittlerweile bin ich zur Auffassung gelangt, dass die Intelligenz zu einem nicht vernachlässigenden Anteil auf einem funktionierendem Gedächtnis besteht.
(8) Aspamara: Ein indischer Dämon der Dummheit und der Ignoranz.