Markus von Stoiker
Geheimer Meister
- 20. Mai 2010
- 407
In jedem Menschen lebt ein göttlicher Funke, seine Seele, die von der Allseele nur ein Absenker ist. So sind alle Menschen selber Abstammung; in jeder menschlichen Seele weht Gottes Geist. Alle sind miteinander verwandt, sie sind, wie die späteren Stoiker dies religiös ausdrücken, Kinder eines Vaters und daher Brüder. So kommen die Stoiker folgerichtig zur Lehre von der Philanthropia, der allgemeinen Menschenliebe, ja schließlich - unberührt vom Christentum - bis zur Feindesliebe. Marc Aurel sagt einmal: »Ich, der ich die Natur des Fehlenden selbst betrachtet habe und bedenke, daß er mit mir verwandt ist, nicht aus demselben Blut oder Samen, sondern demselben Geist, und daß er mit mir an der göttlichen Abkunft teilhat, kann von keinem meiner Mitmenschen Schaden erleiden. Denn in Schande wird mich keiner bringen können. Ich kann meinem Verwandten weder zürnen noch ihn meiden. Denn wir sind zum Zusammenwirken geboren, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der Zähne oben und unten. Einander entgegenzuhandeln ist daher wider die Natur. Wer aber seinem Mitmenschen zürnt oder ihn meidet, handelt ihr entgegen.« – Der Trieb zur Gemeinschaft ist nach stoischer Anschauung einer der Grundtriebe des Menschen, wie besonders die späteren Stoiker mit Vorliebe betonen. Aber schon für die alte Stoa, für Zeno wie Chrysipp, war diese Lehre im System ihrer Ethik von grundlegender Bedeutung. -
Erst die Stoa hat die nationalen Schranken zwischen Hellenentum und Barbarentum überwunden und sich zum Begriff der Menschheit erhoben, der durch sie Gemeingut geworden ist. Der Kosmopolitismus – auch der Ausdruck ist ihr von Anfang an geläufig – ist von ihr aufs nachdrücklichste vertreten worden, in den Reichen der Nachfolger Alexanders wie im Imperium Romanum. Die Stoiker haben auch den Unterschied zwischen Sklaven und Freien innerlich aufgehoben. Wohnt doch der Logos in allen, im Griechen wie im Syrer, im Staatsmann wie im Sohne der Sklavin! Und wahrhaft frei ist ja nur der Weise; wer aber dem Affekt oder der Begierde unterliegt, ist Sklave, mag er auch dreimal Konsul gewesen sein und ihm zwölf Liktoren voraufmarschieren!
Nachbemerkungen von Wilhelm Capelle, Epiktet, Handbüchlein der Moral, Jena 1925