Der Abgrund alltäglicher Barbarei
Am 31. März 2005 hat die 37. Kammer des Sozialgerichts Berlin das JobCenter Berlin-Mitte, Müllerstr. 146, per einstweiliger Anordnung dazu verpflichtet, einem Obdachlosen den Regelsatz des Arbeitslosengeldes II von 345 Euro in voller Höhe zu zahlen. In der Müllerstraße hatte man geltend gemacht, da ein Obdachloser keine Energiekosten habe, könne man ihm pauschal 30 Euro streichen. Das JobCenter habe damit - so das Gericht - gegen das Pauschalisierungsgebot des ALG II und den Grundsatz verstoßen, dass davon nur nach oben, durch Aufstockung, aber nicht nach unten, durch Absenkung, abgewichen werden dürfe.
Am 1. April 2005 schnitt sich eine Dialyse-Patientin im Sozialamt einer deutschen Stadt die Pulsadern auf. Der ALG II-Antrag, den sie gemeinsam mit ihrem arbeitslosen Lebenspartner gestellt hatte, war nicht bearbeitet worden - sie konnte daraufhin die Miete nicht mehr bezahlen und bekam zu hören: "Uns interessiert ihre Miete nicht und im Übrigen sind sie ein Schmarotzer der Gesellschaft wie ihr asozialer Partner auch." (s. www.soziale-bewegungen.de/Aktionen. htm). Am folgenden Montag ging dieser Lebenspartner "bewaffnet" - wie er berichtet - mit "einem Schreiben des Bundesbeauftragten für Datenschutz, dem Grundgesetz, dem BGB und der Visitenkarte eines Anwalts" zur Agentur für Arbeit. Nach fünf Stunden hatte er Erfolg, wenn man die Auszahlung des ALG II einen Erfolg nennen kann...
...Wer sich der Barbarei erst entgegenstellt, wenn ihre Vorherrschaft total ist, handelt zu spät. Die dünne und empfindliche Haut der Zivilisation, die Menschen daran hindert, einander zu töten, muss im Alltag verteidigt werden, solange es noch möglich und wirksam ist. Der Paragraph des Entwurfs einer Europäischen Verfassung, der Aufrüstung zur Pflicht macht, ist ein Paragraph der Barbarei. Und ein Gesetz, das Zwangsarbeit und Niedriglohn verordnet, wenn zugleich eine ungehemmte Umverteilung von unten nach oben und wirtschaftsliberaler Dogmatismus Arbeitsplätze zum knappsten Gut werden lassen, schafft Vorkehrungen für eine totale Herrschaft über die Lohnabhängigen - es sorgt für die neue Klasse der Überflüssigen
http://www.freitag.de/2005/21/05212101.php
Hartz IV: Schicksale aus der Torgauer Georgenstraße
Am späten Montagvormittag in den Räumen der ARGE in der Georgenstraße. Unter den etwa 30 wartenden Alg II- Empfängern in der Leistungsabteilung auch eine Mutter mit ihrem schreienden Baby. Die junge Frau fragt eine ARGE-Mitarbeiterin (ohne Namensschild!), ob sie ihr Kind irgendwo stillen kann. "ExtraRaum hammer nich!" so die prompte Antwort.
Als die Teamleiterin daraufhin nochmals angesprochen wird, bestätigt sie, dass es im Haus in der Georgenstraße keinen Stillraum gibt. Die Wartenden geben zu verstehen, dass sie einverständen wären, wenn die junge Frau sofort an die Reihe käme, sie selbst sagt, dass man sie doch wenigstens mit einer zweiten Frau zugleich aufrufen könnte - das Problem bleibt ungelöst, das Kind schreit, die Mutter stillt es schließlich im ARGE-Wartebereich. Das Baby ist zwei Monate alt, die Mutter sprach vor, weil die ARGE immer noch nicht das Geld für die Umstandskleidung überwiesen hatte…
Es herrscht Angst
Der das erzählt, will seinen Namen nicht nennen. Es herrscht Angst, dass man dann noch mehr "rangenommen" wird. "Kümmern Sie sich um Arbeit!" hat man ihm schon mehrfach aufgefordert. Wo es vielleicht eine Chance gibt, wissen selbst die Mitarbeiter der ARGE nicht. Klar, wenn keine Arbeitsplätze da sind, können auch keine vorgeschlagen werden. Um Arbeit kümmern soll sich auch ein Mann, der unter seinem Hemd jede Menge medizinisches Gerät mit sich herumtragen muss. "Meine Akte ist angeblich abhanden gekommen, nicht auffindbar", sagt er, während er dem Fotografen sein mobiles Labor zeigt.
Abhanden gekommen ist auch die Akte eines weiteren Mannes, der seit Januar von der ARGE reichlich fünfzig Cent monatlich überwiesen bekommt. "Ich habe ein schwerkrankes Kind", berichtet er. "Die Medikamente sind so teuer, dass ich sie nicht kaufen könnte, wenn ich nicht permanent Tag und Nacht schwarz arbeiten gehen würde."...
http://www.torgauerzeitung.com/NewsDetails.asp?ID=19346
nachts um eins in deutschland:
Die Tafel: Immer mehr Familien auf die Lebensmittel angewiesen
Wie sich Hartz IV auswirkt, merken die Leute von der Tafel mit als Erste. "Wir holen ran, was wir nur irgendwie bekommen können. Aber es reicht einfach nicht mehr", sagt Angelika Gercken. Die Sangerhäuserin gehört wie Karsten Krämer und Kerstin Träger aus Allstedt zum ehrenamtlichen Stammpersonal der Tafel, das bis auf ganz wenige Ausnahmen jeden Tag hier zupackt.
Allein in den letzten zwei Wochen sind zwölf Leute dazugekommen, die auf diese Lebensmittel angewiesen sind. "Mit Brot und Gemüse kommen wir gut hin. Alles andere reicht nur noch selten", sagt auch Adelheid Vopel, die wie Karl-Heinz Schönau seit 7. März einen Ein- Euro-Job bei der Tafel hat.
Die Zeiten, als jeder sich Lebensmittel holen konnte, der mit dem kurzen Geld nicht über den langen Monat kam, sind schon seit geraumer Zeit vorbei. 50 Leute hatte die Tafel bequem mit dem versorgen können, was die Mitarbeiter Tag für Tag von den Geber-Geschäften abholen können. Als die Nachfrage stieg, ging die ABI dazu über, einen Nachweis der Bedürftigkeit zu fordern. Arbeitslosengeld-II-Empfänger oder Asylbewerber erhalten den Ausweis für die Tafel. Knapp 300 Personen - die Hälfte davon sind Kinder - versorgt die Tafel in der Lengefelder Straße jetzt.
Rund 60 Leute stehen montags, dienstags, donnerstags und freitags Schlange für die Lebensmittelausgabe, die um 9 Uhr öffnet - maximal für eine Stunde. "Die Ersten stellen sich nachts um eins an, weil sie Angst haben, dass es nicht für alle reicht", sagt Frau Gercken: "Butter beispielsweise. Oft haben wir nur fünf oder zehn Stück."...
Nachts um eins stehen die Ersten an