- Moderation
- #41
- 18. November 2007
- 21.819
Digitale Technologien wären zum Erfassen der realen Bedürfnisse ideal geeignet.
"Schwurbeln Sie hier bitte noch ein "digital" rein, dann geht der Text so raus."
Was sind "reale Bedürfnisse"? In der VWL versteht man unter einem Bedürfnis das Empfinden eines Mangels, Bedürfnisse sind also subjektiv. Maslows Bedürfnispyramide ist mittlerweile als bekannt vorauszusetzen, natürlich ist dieses einfache Modell heute eher umstritten...
Vom Bedürfnis zu unterscheiden ist der Bedarf. Das Bedürfnis ist abstrakt, der Bedarf ist konkret. Empfinde ich Durst, so habe ich das Bedürfnis, zu trinken, und es entsteht Bedarf an Wasser.
Dieses Bedürfnis ist grundlegend, weil unmittelbar lebensnotwendig, und rechtfertigt jeglichen denkbaren Aufwand, den Bau von Aquädukten, Zisternen und Stauseen und das Abteufen von mehrhundertmetertiefen Brunnen durch schieren Fels mit Hammer und Meißel. Es liegt deshalb als dickes, breites, unverzichtbares Fundament am Fuße der Bedürfnispyramide. Wir Deutschen wenden heute allerdings den allergeringsten Teil unserer Arbeit dafür auf, denn das Wasser kommt aus dem Hahn und ist so gut wie kostenlos, weshalb allerhand Moralprediger uns immer auffordern, es nicht so zu verschwenden und die europäische Zentralverwaltung für wichtige Sachen uns neue Duschköpfe verordnet hat. Ich möchte nicht den Aufschrei hören, der durchs Land ginge, wenn eine so wichtige Sache wie Wasser uns soviel kosten würde wie unser Freß- und Sauftürkeiurlaub all inclusive, denn momentan (2007) gibt ein allein lebender Deutscher im Schnitt € 151.-/Jahr für Leitungswasser aus, und es sei gesagt, daß er nur den geringsten Teil davon durch seine Gurgel laufen läßt. Acht durchschnittliche Bruttostundenlöhne, also zwo Tage Arbeit nach Abzügen, kaufen das Wasser fürs ganze Jahr. Rechnen wir grob mit 220 Arbeitstagen, sind das... Ach was, rechnen wir mit 200, dann ist das ein Prozent, oder, damit es sich nach mehr anhört, 10 Promille bzw. 10.000 parts per million.
Die anderen 99% unserer Leistung verwenden wir auf Dinge, die weniger wichtig sind als Wasser. Ist ein Bedürfnis gestillt, tun sich neue auf. Wer entscheidet nun, welche Bedürfnisse "real" sind?
Nun machen wir uns nach diesem anstrenden Denken mal auf in die Mensa, die Kantine oder das Casino und gönnen uns einen schönen Schluck Leitungswasser, denn wir haben eine trockene Kehle schon allein von der Vorstellung, das alles einem Publikum erklärt zu haben. Witzigerweise stehen in vielen Büros ja nach amerikanischem Vorbild inzwischen Leitungswasserspender, also könnten wir das tatsächlich tun, aber wir wollen in die Mensa oder Kantine oder ins Casino! Da gibt es kein amerikanisches Leitungswasser, sondern nur gute deutsche Sachen wie Cappuccino, Latte Macchiato oder Bionade! Wir entscheiden uns für Bionade. Warum sind wir nicht zum Wasserspender gegangen? Weil die Bionade nicht nur ein Bedürfnis befriedigt, sondern viele! Man stillt nicht nur den Durst, sondern äußert auch Kritik an ausbeuterischen Großkonzernen wie Coca Cola, beweist exquisiten Geschmack, fördert die eigene Gesundheit, unterstützt heimische Mittelständler und kann allen zeigen, was für ein selbstgefälliger Mainstreamhipster man ist! Außerdem enthält die Plörre genug Zucker für den ganzen Tag, und die Synapsen schreien schon seit einer Stunde nach Zucker.
Wie man vielleicht sieht, ist es nicht einmal die halbe Miete, wenn unsere digitalen Technologien messerscharf den Wasserbedarf der Menschheit erkannt und uns allen spottbilliges, sauberes Leitungswasser ins Haus gelegt haben. Nur ein paar von uns haben das dringende Bedürfnis, durch plakativ zur Schau gestellte Bedürfnislosigkeit ihre Charakterstärke und Tugend allen anderen unter die Nase zu reiben, und damit sind die Möglichkeiten des Wassers schon ausgereizt. Wenn wir nach "realen" Bedürnissen gehen, dann bekommen wir Leitungswasser für den Durst, Vitamintabletten für die Gesundheit, ein Päckchen Würfelzucker für die Kalorien und die Reproduktion der Hulamädchen von Gauguin für unser Fernweh, aber wir bekommen nie und nimmer Kaba, den Plantagentrank. Oder wie zum Henker sollen die digitalen Technologien auf so eine Idee kommen und auch noch Kaba, Bionade und 150 Craftbeersorten in der richtigen Menge in den Fünfjahresplan stellen? Der Ruf nach den "realen" Bedürfnissen ist immer der Ruf nach Verzicht, nach weniger Konsum, nach mehr Arbeit und nach weniger Freiheit. Jawohl, nach mehr Arbeit, denn die staatlich geregelte vernünftige Freizeitgestaltung wird ja gleich nachgereicht, es gibt ja immer Ideen, was man vernünftigerweise machen sollte, jedenfalls nicht einfach das, was man will.